BMM 2016/17 – Nachtrag zur 8. Runde: Kein Schach auf dem Rasen!

Bei dem nachfolgenden Beitrag handelt es sich um eine Ergänzung des Berichts mit dem Titel „Physik schlägt Chemie“ von Kai-Gerrit Venske zum Mannschaftskampf der ERSTEN. Zugleich stellt der Beitrag den ersten Versuch dar, Diagramme mit nachspielbaren Varianten auf unserer Webseite online zu stellen. Einen ganz herzlichen Dank an unseren Webmaster Claudia Münstermann für die diesbezügliche Unterstützung!

 


Doch zunächst sei noch darauf hingewiesen, dass zu den Mannschaftskämpfen unserer VIERTEN und SECHSTEN noch folgende Berichte auf den Webseiten ihrer Gegner veröffentlicht worden sind:

Zu SG Narva Berlin II – SC Weisse Dame IV 3,0:5,0 (Klasse 1, Staffel 4):

„Alles gegeben, doch nichts gewonnen“ (dort unter „2. Mannschaft“)

Zu SK Zehlendorf V – SC Weisse Dame VI 3,0:3,0 (Klasse 4, Staffel West):

„Stellenanzeige! Mannschaftsführer für eine sehr talentierte Nachwuchsmannschaft gesucht!!!“

 


Nun die Ergänzung zum Bericht der ERSTEN:

Zur Erinnerung: Unser Cäpt’n Kai führt in seinem Bericht zum Mannschaftskampf der ERSTEN beim BSV 63 Chemie Weißensee den souveränen 6,5:1,5-Auswärtserfolg auf überlegene Kräfte der Physik zurück. Diese hätten sich vor allem in der Schwerkraft eines Pkw konzentriert, welcher von gleich drei Physikern zur Anreise genutzt worden war. Mir selbst rief diese einen Kräftevergleich unter den Naturwissenschaften anstrengende Betrachtungsweise einen von meinem ehemaligen Physiklehrer in unserem Leistungskurs oft wiederholten Spruch in Erinnerung, der da lautet: „Chemie ist’s, wenn es kracht und stinkt – Physik, wenn kein Versuch gelingt!“

Ein Versuch allein bringt auch im Schach nichts Zählbares ein. Ganz anders im Rugby, wie man unter anderem aus der Fernsehberichterstattung über die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro im vergangenen Jahr erfahren konnte, bei denen Rugby in der 7er-Version erstmals seit dem Jahr 1900 wieder olympisch war: Dort wird es als Versuch bezeichnet, wenn es einem Spieler vergleichbar mit einem Touchdown beim American Football gelingt, den Ball in Form eines – die Mathematiker unter den Lesern sollen schließlich auch noch auf ihre Kosten kommen! – verlängerten Rotationsellipsoids im gegnerischen Malfeld abzulegen; dafür erhält das Team des Spielers dann Punkte. 

Rugby wiederum wird auch gern als Schach auf dem Rasen umschrieben. Soweit man dem vorstehend zitierten Spruch Glauben schenken will, konnte es in Anbetracht der hohen Punkteausbeute aber offenbar kein Rugby gewesen sein, was unsere Physiker den Chemikern am zurückliegenden Sonntag geboten hatten. Andererseits hätten uns erfolgreiche Gewinn-Versuche am Brett dem Spruch nach ebenfalls nicht gelingen dürfen. Was also war es dann, was wir gespielt haben?

Die Lösung liegt vielleicht darin, dass es sich bei unserem Mannschaftskampf schlichtweg um die berühmt-berüchtigte Ausnahme handelte, welche sprichwörtlich die Regel bestätigt, die dem Spruch zugrunde liegt – oder dass Letzterer eben doch keine generelle Geltung für sich beanspruchen kann. Schließlich möchte ich – was eine entsprechende Regel aber ebenfalls bedingen würde – auch keineswegs behaupten, dass wir im Spiellokal unseres Gegners Lärmquellen oder unangenehmen Gerüchen ausgesetzt gewesen wären.

Das Kompliment, welches mir Kai in seinem Bericht ausspricht, indem er darin meinen Beitrag zu dem Mannschaftskampf als „Partie des Tages“ würdigt, nehme ich gerne an – soweit sich dies auf den bis hin zum Schlussakkord spannenden Partieverlauf mit zum Teil spektakulären und beiderseitig listigen Zugfolgen bezieht. Aus einem Guss oder gar fehlerlos spielte ich hingegen keineswegs. Inwieweit dies also etwas mit Schach zu tun hatte, mag der geneigte Leser anhand des nachfolgenden Partiefragments für sich selbst beurteilen.

Hier die gesamte Partie mit allen relevanten Varianten vorzustellen, würde bei Weitem den Rahmen sprengen. Ich möchte mich daher mit meiner Analyse auf die kritische Phase der Partie im Mittelspiel beschränken, die auch den von Kai in seinem Bericht erwähnten, von ihm während der laufenden Partie jedoch zunächst nicht bemerkten Figurengewinn umfasst:

 

 

Es folgte 22.c5! Auf 22…Lg4 fand ich zwar mit 23.cxd6! erneut den besten Zug. 23…Lxd1 brauchte ich dabei nicht zu fürchten, denn nach 24.dxe7+ Dxe7 25.Txd1 De6 26.e4 macht die deutlich aktivere Figurenstellung mit dem Läuferpaar in Verbindung mit dem Mehrbauern die Minusqualität mehr als nur wett. Nach 23…exd6 hat Weiß sein positionelles Ziel erreicht, mit dem Isolani auf d6 eine Schwäche im schwarzen Lager zu provozieren, und kann 24.Te1 mit Vorteil folgen lassen. Nach 23…Dxd6?? verpasste ich dann jedoch mit 24.Td2? die Chance, frühzeitig entscheidenden Vorteil zu erzielen.

 

Aufgabe (Lösung am Ende des Berichts):

Wie hätte Weiß anstelle von 24.Td2? fortsetzen sollen?

 

Mit 24…Sxb4! 25.Txc8+ Txc8 26.Dxb4 Dxb4 27.Sxb4 Lc3 hätte mein Gegner nun Ausgleich erzielen können, z. B. 28.Td4 Lxd4 29.exd4 Tc1+ 30.Kf2 Tb1 31.a3 (31. Sd5? Le6! -+) 31…Tb2+ 32.Kg1 Tb1+. Nach 24…Kg8? ließ ich mit 25.e4 erneut klaren Vorteil aus: Zwar berechnete ich richtig, dass nach 25.h3!! Ld7 26.Lc5! De6 der Einschlag 27.Sxe7+ wegen Sxe7 28.Dxd7 (auf 28.Txd7 führt 28…Txc5! 29.Txc5 Dxe3+ 30.Kh2 Ld4! zu Ausgleich) 28…b6! nicht viel bringt, aber 27.Db3! mit den Drohungen Sb6 sowie Tc4 nebst Te4 stellt Schwarz vor erhebliche Probleme, z. B. 27…Td8 28.Lb6 Tdc8 29.Lc7 Ta8 30.Sb6! +-. Die beiden Zwischenzüge 25…Lf5 26.e4 haben zur Folge, dass Schwarz nach 26…Ld7 27.Lc5 De6 28.Sxe7+ Sxe7 29.Txd7 ein Turmopfer auf c5 jetzt nicht weiterhilft, und 25…Le6?? verliert wegen 26.Lc5! nebst Sxe7+ die Dame. Nach 25…e5 (erneut wäre 25…Sxb4! besser gewesen, worauf nach 26.e5! Lxe5! 27.fxe5 Dxe5 einzig 28.Se3!! weißen Vorteil sichert) ergab sich folgende Stellung:

 

 

Hier wäre 26.f5 mit der Idee, dem Läufer auf g4 den Rückzug zu versperren, um sich diesen mittels h3 einverleiben zu können, wegen 27…Lh6 mit beiderseitigen Chancen verfrüht. Ich entschied mich daher für 26.Le3?, was neben einer Vorbereitung des aufgezeigten Läuferfangs den Turm auf d2 decken und somit dem Springer auf d5 Beweglichkeit verleihen sollte. Damit gewährte ich meinem Gegner aber nicht nur die Möglichkeit, mittels 26…Sd4! Ausgleich zu erzielen, sondern ließ zum dritten Mal hintereinander eine Siegchance verstreichen. Dabei war meine Idee schon richtig – allein die Ausführung nicht: 26.Lc5!! erzwingt 26…De6, was ebenso die Diagonale c8–h3 versperrt und somit – lediglich mit dem Unterschied, dass der schwarzfeldrige Läufer von Weiß dann anstelle von e3 auf c5 steht – auf gleiche Weise zum Figurengewinn führt wie schließlich das freiwillige 26…De6?? in der Partie, worauf ich 27.f5! spielte.

Noch stärker wäre allerdings die umgekehrte Ausführung desselben Motivs mittels zunächst 27.h3!! gewesen, da Schwarz hier im Gegensatz zur Partiefortsetzung keine Zeit zur Beseitigung des weißen g-Bauern bleibt: Nach 27…Lxh3 28.f5 Lxf5 29.exf5 gxf5 (29…Dxf5?? Txc6! +-) 30.Dd1 erobert Weiß den schwarzen h-Bauern und hat mit Läufer für zwei Bauern sowie zudem aktiverem Figurenspiel klaren Vorteil. Auf 39…h4? (39.Dg6?? 40.Txc6! +-) folgt 31.Lg5!, worauf sich 31…hxg3? wegen 32.Txc6!! verbietet, z. B. 32…Txc6 33.Se7+ Kh7 34.Dh5+ Lh6 35.Lxc6 bxc6 36.Lxh6 Dxh6 37.Dxf7+ Dg7 38.Dxf5+ Kh8 39.Td7! nebst Matt oder 32…bxc6 33.Se7+ Kf8 34.Sxc8 Txc8 35.Td8+ Txd8 36.Dxd8+ De8 37.Le7+ +-. Vermutlich zog ich diese Reihenfolge nicht in Betracht, weil ich gedanklich noch in meinen Berechnungen zum Zug 26.f5 verhaftet war, zu dem 26.h3 keine Alternative ist, weil sich hierauf der schwarze Läufer entlang der Diagonalen c8–h3 zurückziehen kann.

Es folgte 27…gxf5 28.h3. Anstelle von 28…f4? hätte hier 28…fxe4 29.hxg4 Sd4 30.Txc8+ Txc8 bzw. in umgekehrter Abfolge 28…Sd4 29.Txc8+ Txc8 30.hxg4 fxe4 Schwarz bessere Chancen geboten, doch nach 31.Lxe4 hxg4 steht Weiß trotz offener Königstellung im Hinblick auf die Mehrfigur für zwei Bauern ebenfalls klar besser. Auf 31…Dxg4!? gewinnt 32.Se7+! Kh8 33.Dd1! Dxg3+ 34.Kf1 Dxe3 35.Dxh5+ Dh6 (35…Lh6? 36.Dxe5+ nebst Matt) 36.Th2! Tc1+ 37.Kg2 bzw. 32…Kf8 33.Sxc8 Dxe4  (33…Dxg3+ 34.Kf1 Dxe3 35.Dd7!! Df4+ 36.Tf2 Dc1+ 37.Kg2 Dg5+ 38.Kh3 +-) 34.De8+!! Kxe8 35.Sd6+ Ke7 36.Sxe4 Sf3+ 37.Kg2 Sxd2 38.Lxd2. Auf 29.gxf4 ist neben der Partiefortsetzung 29…Sd4? auch 29…Lxh3 30.f5 gxf5 31.exf5 verloren, weil jetzt 31…Dxf5 wieder an 32.Txc6! scheitert. Aber auch nach dem besseren 29…exf4 Sxf4 steht Weiß auf Gewinn. Nach 30.Txc8 Txc8 wollte ich im Hinblick auf meine Zeitnot mit 31.Lxd4 weiteres Material abtauschen. Auch nach 31.hxg4 Tc1+ muss Weiß den schwarzen Turm auf seiner Grundreihe zunächst dulden, da sich das sofortige 32.Td1?? wegen 32…b5! verbietet. Auf 31…Tc1+ ist anstelle von 32.Kh2 ebenso gut 32.Kf2 möglich. Nach 32…exd4 33.hxg4 ergab sich folgende Stellung:

 

 

Da mir im Fall von 33…Dxg4 der natürlich erscheinende Verteidigungszug 34.Db3 wegen 34.Tc3!? zu heikel erschien, hätte ich mich hier intuitiv darauf verlassen, dass Schwarz nach 34.De8+ Kh7 35.Dxf7 Dh4+ 36.Lh3 Th1+!? 37.Kxh1 Dxh3+ 38.Kg1 kein Dauerschach hat, ohne dass ich mich in meiner Zeitnot noch folgende Varianten zu berechnen imstande sah: 38…Dg3+ 39.Kf1 Df3+ (39…Dh3+ 40.Tg2 Dd3+ 41.Kg1 Dd1+ 42.Kh2 +- bzw. 40…Dh1+ 41.Kf2 Dh4+ 42.Ke2 d3+ 43.Kd2 +-) 40.Tf2 Dd1+ (40…Dh1+ 41.Ke2 Dxe4+ 42.Kd2 +-) 41.Kg2 Dg4+ 42.Kh2 Dh4+ 43.Kg1 Dg3+ (43…Dg4+ 44.Tg2 Dd1+ 45.Kh2 +-) 44.Kf1 Dd3+ 45.Kg2 Dxe4+ 46.Kh2 +- bzw. 44…Dh3+ 45.Ke2 d3+ 46.Kd2 +-.

Nach 33…hxg4 34.Td1 b5 35.Db3 Tc4 36.Dg3 hatte ich eine Figur für einen Bauern mehr. Noch vor der Zeitkontrolle stellte ich jedoch noch einen zusätzlichen Bauern ein, sodass sich die Verwertung des Vorteils – wie sich der geneigte Leser durch ein Nachspielen des unkommentierten Rests der Partie selber vor Augen führen mag – letztlich nicht leicht gestaltete. Trotz der Mehrfigur musste ich in der Folge noch lange um den Sieg kämpfen – wenn auch nicht so sehr mit Muskelkraft wie beim Rugby.

 

Lösung zur Aufgabe:

24.Sxe7!! Lxd1 (24…Dxe7?? 25.Lc5! +-) 25.Txd1 nebst Sxc8

 


Zum Schluss noch etwas Kurioses:

Seit Jahresbeginn stehe ich mit einem Schachfreund aus Nordrhein-Westfalen in engem Kontakt, der im Jahr 1991 gemeinsam mit mir an einem Turnier in Moskau – unter anderem mit Ex-Weltmeister Tal sowie Iwantschuk und dem damals noch jugendlichen Kramnik– teilgenommen hatte. Während der dollen Tage fragte er mich, ob man in der Hauptstadt ebenfalls Karneval feiern würde. Anstelle ihm zu erläutern, dass dies hier keine Tradition hat und die verstärkt seit dem Regierungsumzug aufgekommenen Bestrebungen, Karneval insbesondere durch einen jährlichen Faschingszug auch im Berliner Veranstaltungskalender zu etablieren, in der Bevölkerung bislang noch keine allzu große Resonanz gefunden hat, beschränkte ich mich darauf, ihm unter gleichzeitigem Hinweis auf den stets zu Pfingsten stattfindenden alternativen Karneval der Kulturen ein Foto von genau jenem Plakat zu übersenden, das auch im Bericht von Kai abgebildet ist – mit dem einzigen Unterschied, dass ich dieses in dem zur Linie U7 gehörenden U-Bahnhof Adenauerplatz aufgenommen hatte.