Wilhelm der Erste – Ein Besuch bei Weltmeister Steinitz in Brooklyn

 

Wilhelm der Erste – Ein Besuch bei Weltmeister Steinitz in Brooklyn

Fotobericht von Cord Wischhöfer

Der November 2019 brachte den Berichterstatter dienstlich wieder einmal nach New York, wo eine Konferenz der Verlage eines Dutzends von Normungsinstituten aus Europa und den Vereinigten Staaten stattfand. In einer freien Stunde vor dem Rückflug nach Berlin sprang ich in den A-Train von „Port Authority Bus Station“ in Manhattan bis „Broadway Junction“ in Brooklyn. Keine 500 Meter von der U-Bahn-Station entfernt befindet sich der Eingang des „Cemetery of the Evergreens“ einer jener großzügig angelegten Friedhöfe, der mehrere Hektar eines leicht welligen, hügeligen Höhenrückens im Grenzgebiet von Brooklyn und Queens beansprucht – sehr schön gelegen und sehr gepflegt. Auf diesem sehr weitläufigen Gottesacker liegt Wilhelm Steinitz begraben …   

 

Der Schachmeister, geboren in Prag in der österreichisch-ungarischen KuK-Monarchie, der seit seinem Wettkampf gegen Adolph Andersen 1866 bereits als inoffizieller Schachweltmeister galt und seit seinem Sieg über Johannes Hermann Zuckertort 1886 auch offiziell der erste Weltmeister war, wird auf einer Reihe von Webseiten erwähnt, die aufführen, welche Berühmtheiten auf welchem Friedhof begraben sind. Es gibt auf Youtube auch ein Video eines spanischen Schachfreundes, der von seinem Besuch am Grab berichtet. Leider wird vor Ort auf dem Friedhof keinerlei Übersichtsinformation darüber angeboten, welche bekannte Persönlichkeit auf welchem der dutzende, fußballfeldgroßen Gräberfelder bestattet ist. Vielleicht ist aber auch ein im Jahr 1900 in teilweise geistiger Umnachtung verstorbener eingebürgerter Austroamerikaner heute keine für die Mehrzahl der US-Amerikaner mehr relevante Berühmtheit. Wäre er bei uns in Deutschland wohl auch nicht. Nur Schachgeschichtsliebhaber suchen freiwillig Gräber von Schachweltmeistern auf. Ich bin bekannter Maßen Wiederholungstäter mit Besuchen bei Lasker und Fischer*).

So machte ich mich bei windigem, aber trockenem Spätherbstwetter auf den Weg, um Weltmeister Steinitz letzte Ruhestätte ausfindig zu machen. Als Hilfe hatte ich die Informationen, dass das Grab nicht an einem der breiten Wege zu finden, das richtige Gräberfeld recht eben und nicht sehr dicht belegt und es von einem der breiten Friedhofswege aus ausgeschildert ist. Mit zugeknöpftem Mantel und hochgeschlagenem Kragen erkundete ich den Cemetery of the Evergreens. Zwei Dinge fielen mir auf: Zum einen waren mindestens die Hälfte der Gräber von deutschstämmigen Familien, teilweise mir deutschen Grabinschriften. Zum anderen gibt es dort auch sehr große Begräbnisfelder von chinesisch- und vietnamesischstämmigen Familien; vielfach sehr deutlich nach geographischer Abstammung sortiert.

 

Nach einer guten halben Stunde des Herumstromerns über den Friedhof kam dann mehr oder minder zufällig der Wegweiser auf das Grab von Weltmeister Wilhelm „William“ Steinitz in Sicht.

 

Vom Weg abgebogen waren es noch ca. 50 Meter über den Rasen, bis ich am Grabe des Mannes stand, der zwischen 1886 und 1894 Schachweltmeister war. Man darf sich den Grabstein nicht als imposant vorstellen. Vielmehr ist es ein sehr einfacher grau-schwarzer Stein auf dessen Kopfseite ein einfaches Schachbrett eingelassen ist. Meine Gedanken verweilten kurz beim Werk des eher schmächtigen ersten Positionsspielers, auf dessen figurativ dann doch sehr breiten schachlichen Schultern seine Nachfolger standen und wir heute noch alle stehen.

 

Danach schoss ich noch das obligatorische Beweisphoto für meinen Besuch, was sich bei dem kleinen Grabstein und (natürlich) ohne Handystick als nicht ganz einfach erwies und eher würdelose Verrenkungen erforderte.

 

Ich verabschiedete mich von Wilhelm dem Ersten und machte mich auf den Weg zurück ins Stadtzentrum, wo mein Koffer auf mich wartete. Beim Verlassen des Friedhofs ging mir noch der Gedanke durch den Kopf, dass mit Steinitz (1900), Lasker (1941) und Capablanca (1942) die ersten drei Schachweltmeister längerer Zeit in New York lebten und dort gestorben sind. Lasker und Capablanca sogar im gleichen Krankenhaus. So viel zur Rolle von New York als Nabel der Schachwelt im Zwanzigsten Jahrhundert.

Nachdem Peter Becker schon an Capablancas Grab in Kuba war, stehen nun mit Paris, Alexander Aljechin, und Amsterdam, Max Euwe, näher an Berlin gelegene Weltmeister-Ruhestätten an, die von Mitgliedern des Schachclub Weisse Dame besucht werden könnten, bevor wir uns dann nach Moskau aufmachen müssen, wo mit Michael Botwinnik, Wasili Smyslow und Tigran Petrosian drei Weltmeister beerdigt sind. Michael Tal ist in Riga begraben. Auch eine sehr schöne Stadt, die einen Besuch wert ist. Packen wir es an!

 


*)
Wind, Vulkane und ein Grab bei Selfoss – Ein Islandurlaub und ein paar Fotos von dem, was von 1972 noch greifbar ist, Cord Wischhöfer, GARDEZ! 2013-02, S.24ff.

Ein Besuch an Emanuel Laskers Grab – New York im Herbst und die letzte Ruhestätte des Genies aus Berlinchen/Barlinek, Cord Wischhöfer, GARDEZ! 2014-03, S. 40ff.