Ein Besuch in München bei Dr. Siegbert Tarrasch
von Cord Wischhöfer
Coronazeiten sind Zeiten ohne Reisen zu schachhistorisch bedeutsamen Stätten wie den Gräbern von Weltmeistern. War der Autor dieser Zeilen Ende 2019 noch bei Weltmeister Wilhelm Steinitz gewesen und hatte dem Erfinder und Propagator des Positionsspiels die Ehre erwiesen, so zeigte sich das Jahr 2020 bezüglich der Möglichkeiten derartiger Ruhestättenbesuche als eher schwierig.
Doch Karfreitag 2021 bot mit hervorragendem Wetter und prognostiziert leeren Autobahnen die Gelegenheit in einem ausgedehnten innerdeutschen Eintagesausflug dem Grab des möglicher Weise zweitstärksten deutschen Schachspieler aller Zeiten, Dr. Siegbert Tarrasch, in der bayerischen Landeshauptstadt München an frischer Luft einen Besuch abzustatten.
Tarraschs Ruhestätte
Dr. Siegbert Tarrasch starb 1934 und fand seine letzte Ruhe auf dem Nordfriedhof in München. Jener liegt direkt am Ende der von Berlin kommenden A9, sodass ich nach ca. 570 km reiner Autobahn-Anfahrt mittags am Tor dieses sehr großen Gottesackers stand, ausgerüstet mit einem Friedhofsplan und der Information, wo Siegbert Tarraschs Grab mit der Nummer 128-3-73 zu finden sei. Sonnenbeschienene weite Wege unter hohen Bäumen, in denen Eichhörnchen ihren jahreszeitlich angemessenen Verrichtungen nachgingen, brachten mich kaum zehn Minuten nach Betreten des Friedhofs zum Grab des Praeceptor Germaniae (des Deutschen Vorkämpfers), wie er zu seiner Zeit genannt wurde.
Der erst kürzlich sehr schön renovierte Grabstein markiert die Ruhestätte. Der „SK Tarrasch–1945 München“ (mit Bindestrich bitte!; nicht nur die Weisse Dame – mit Doppel-s bitte! – hat ihre Namensidiosynkrasien) hat sich in vorbildlicher Weise des Erhalts der Ruhestätte seines Namensgebers angenommen, wie die beigefügten Bilder zeigen.
Wer mehr über die Geschichte der Erhaltung dieser schachhistorisch wichtigen Stätte wissen möchte, informiere sich hier beim Deutschen Schachbund oder hier bei Chessbase, wo erst vor kurzem Artikel zum Thema erschienen waren, die mich zum einen dazu bewegten, nach München zu fahren. Zum anderen war es aber auch die Lektüre der wirklich sehr ausführlichen und spannenden Biografie über Emanuel Lasker aus dem Excelsior-Verlag, in der unter der Federführung der Herausgeber Richard Forster, Michael Negele und Raj Tischbierek das Leben und Wirken des einzigen deutschen Weltmeisters beschrieben und analysiert wird.
Tarrasch und Lasker
Einen wichtigen Teil darin nimmt die jahrzehntelange Konkurrenz von Dr. (der Mathematik) Emanuel Lasker und Dr. (der Medizin) Siegbert Tarrasch ein, die in den frühen 1890er-Jahren öffentlich wurde und mit dem von Lasker gewonnen Weltmeisterschaftskampf der beiden Großmeister in Düsseldorf und München im Jahr 1910 noch nicht ihr Ende fand.
Wichtig dabei zu erwähnen ist, dass damals in Deutschland die Sympathien vieler Vereine und Schachzeitschriften wohl eher auf Seiten Tarraschs lagen, der in Deutschland als Arzt arbeitend und Schach spielend viele bedeutende Turniere gewann und damit sicher präsenter war als der sich Zeit seines Lebens auf Reise befindliche Weltmeister und Berufsschachspieler Lasker, der lange Jahre in Großbritannien und den USA verbrachte. Nationalistische Untertöne mögen dabei eine gewisse Rolle gespielt haben.
Vielleicht kam auch der eher dogmatisch denkende Tarrasch mit seinen Lehrsätzen (Das Zentrum mit Bauern besetzen! Die Tarrasch-Verteidigung ist die einzig richtige Spielweise im Abgelehnten Damengambit! Der Turm gehört im Endspiel hinter den Freibauern!) und seiner Überzeugung, es gäbe in jeder Stellung den einzig richtigen (besten) Zug, dem preußischen Geist näher als der schachlich flexiblere Lasker, dem ja eine ausgesprochen psychologische, schachpraktische Herangehensweise an das Spiel und seine Gegner attestiert wird.
Tarrasch und Nimzowitsch
Aber nicht nur zu Lasker hatte Tarrasch ein kämpferisches Verhältnis. Als Schachspieler eher klassischer Ausrichtung hatte Tarrasch auch so manche Meinungsverschiedenheit mit den Vertretern der Hypermodernen Schule, allen voran Aaron Nimzowitsch, dessen keinesfalls weniger dogmatische Ader in den Büchern „Mein System“ und die „Praxis meines Systems“ auch deutlich zum Ausdruck kommt: Hans Kmoch (Autor von „Die Kunst der Bauernführung“) fühlte sich durch Nimzowitschs Dogmatismus zu der heute noch witzigen, ironischen Kommentierung der frei erfundenen Unsterblichen Überdeckungspartie zwischen Nimzowitsch und Systemsson veranlasst.
Tarrasch und Nimzowitsch lieferten sich über die Veröffentlichung von Büchern („Dreihundert Schachpartien“ (Spielesammlung hier) oder „Die moderne Schachpartie“) und Zeitschriftenartikeln einen schachlichen Glaubenskampf, der uns heute in seiner Verbissenheit etwas verwundern mag, aber wohl der unbarmherzigen Suche beider nach der „einen“ schachlichen Wahrheit geschuldet war. Und Konkurrenz belebt ja bekanntermaßen das Geschäft und den schachlichen Ehrgeiz, sodass jede Partie der beiden Großmeister gegeneinander von großer persönlicher Bedeutung war.
Tarrasch, der Deutsche
Zurück zum im März 1862 in Breslau geborenen Tarrasch, der wie Lasker deutsch-jüdischer Abstammung war und anscheinend großen Wert auf die volle Anerkennung in Deutschland als Deutscher legte, was im Kaiserreich und danach für jüdische Bürger eine schwierige Angelegenheit (Stichwort „Gläserne Decke“) war. 1909 konvertierte Siegbert Tarrasch vielleicht auch deshalb zum christlichen Glauben. Einer seiner Söhne fiel im ersten Weltkrieg: Er hatte also persönliche Entscheidungen in diesem Anerkennungsbestreben getroffen und wie viele deutsche Juden dem deutschen Kaiserreich, hier vermittelt auch durch den ultimativen Einsatz seines Sohnes, gedient.
Siegbert Tarrasch starb im Februar 1934 71-jährig in München an Lungenentzündung (womit wir fast wieder bei Corona wären). Er musste also nicht mehr in Gänze erleben, wie schrecklich die Antwort der Mehrheitsdeutschen unter der Führung eines gewissen Adolf Hitler hinsichtlich der Anerkennungsbestrebungen des bürgerlichen Judentums ausfiel.
Tarraschs Erbe
Schachlich lebt Siegbert Tarrasch heute fraglos weiter: Einige seiner Lehrsätze sind auch heute von großer Bedeutung für die Ausbildung von Schachspielern (Turm hinter den Freibauern!). Eröffnungsvarianten in der französischen Verteidigung und im Abgelehnten Damengambit, beide geprägt durch Isolani-Strukturen, tragen seine Namen.
Wenn man nicht zu dogmatisch denkt und als Schwarzer manchmal eher aktiv und manchmal eher auf Ausgleich bedacht das Abgelehnte Damengambit spielt, dann vereinigt man mit der Tarrasch-Verteidigung (aktiv) und der Lasker-Variante (Ausgleich) zwei nach den beiden größten deutschen Schachspielern und Konkurrenten benannte Spielweisen in einer modernen Schachperson.
Und so stehen wir heute ganz natürlich und ohne schachlichen Glaubenskampf als Schachspieler auf den Schultern der „Großen Vorkämpfer“ (Kasparow), von denen Siegbert Tarrasch sicher einer war.
Binde- oder Halbgeviert- bzw. „Bis“-Strich – das ist hier die Frage!
Wenn Du, lieber Cord, vermutlich zutreffend (siehe hierzu die auf der Webseite des SK Tarrasch-1845 München downloadbare Satzung) von einem Bindestrich schreibst, warum setzt Du dann selbst einen Halbgeviertstrich? Weil dies mehrfach auch auf der Webseite des Vereins – gemäß der vorstehenden Vermutung konsequenterweise fälschlich – so zu lesen ist? 😉
Danke Cord für diesen tollen Bericht. Es hat mir viel Spaß gemacht diesen zu lesen.
Lieber Cord, herzlichen Dank für diesen gelungenen Artikel, der zusätzlich zu den schachhistorischen Anmerkungen auch bedenkenswerte tagesaktuelle Bezüge beinhaltet (Corona, Antisemitismus, ökologischer Fußabdruck).
Die mir bisher unbekannte „Unsterbliche Über-Deckungspartie“ habe ich mit großem Vergnügen nachgespielt und mich dabei über die Kommentierung köstlich amüsiert. 🙂
Prädikat: Eine sehr empfehlenswerte Lektüre!
Besten Dank, lieber Cord, für deinen neuerlichen Reisebericht mit den diversen interessanten Zusatzinformationen … wirklich ganz wunderbar geschrieben! Die Sammlung deiner Besuche von Grabstätten der alten Meister wird nun immer umfangreicher.
Du wirst dich natürlich an den trinkfesten IM Alexander Panchenko erinnern, der Mitte der 90er-Jahre mit guten Resultaten das erste Brett unserer Oberliga-Mannschaft verwaltete. Persönlich mit ihm ins Gespräch gekommen bin ich eigentlich nie so richtig, einmal aber fragte ich ihn dann doch, wer denn sein schachliches Vorbild wäre. Die lakonische und für mich unerwartete Antwort lautete: „Tarrasch“. Ich war verblüfft.
In den vergangenen Monaten hatte ich die Muße, mich mit einigen Klassikern der Schachliteratur zu beschäftigen; ein Vorhaben, welches bei mir lange schon auf der Agenda stand, ich dieses aber doch immer wieder aufgeschoben hatte. Das hervorragende Buch von Siegbert Tarrasch „Das Großmeisterturnier zu St. Petersberg 1914“ war dabei ganz besonders lesenswert, denn bei diesem Turnier nahmen u.a. mit Lasker, Capablanca, Aljechin, Rubinstein, Nimzowitsch, Marshall und Tarrasch sämtliche Koryphäen der damaligen Zeit teil. Es wurden dort viele großartige Partien gespielt, eine jedoch sticht besonders hervor und zwar Tarraschs spektakulärer Sieg über Nimzowitsch. Ein absolutes Meisterwerk und eine Perle der Schachgeschichte!
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